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Galizien, ein Viel-Völker-Land

Galizien, ein Viel-Völker-Land

Das Gebiet Galiziens war bis zum 6.Jhd. von Germanen besiedelt. Im Zuge der Völkerwanderung strömten dann die Slawen ins Land. Galizien umfaßt ein Gebiet von rund 83000 qkm. Es zieht sich im Süden von den Beskiden über die Hohe Tatra, die Waldkarpaten bis zu den Ostkarpaten und dehnt sich nördlich über das Vorland der Karpaten bis zur polnischen Platte mit dem Weichsel-San-

Gebiet im Westen und bis Wolhynien mit dem Dnjester-Gebiet im Osten aus, Bis 1772 war Galizien keine Einheit. Mit der Namensgebung „Königreich Galizien-Lodomerien" knüpfte Österreich an die mittelalterliche Geschichte des Ostteils Galiziens, das Fürstentum Halitsch am Dnjester, latinisiert „Galicia", an. Das Fürstentum Halitsch sonderte sich Mitte des 11. Jahrhunderts vom Kiewer Reich ab. Es erlebte unter Jaroslaw Osmomysl (1153—87) eine Blütezeit und wurde 1198 durch Roman von Wladomir Wolhynien (Lodomerien) vereinigt. Nach dessen Tod 1205 erhoben Polen und Ungarn Ansprüche. Der König von Ungarn führte den Titel „Rex Galiciae et Lodomeriae". Die Fürstentümer konnten jedoch ihre Selbständigkeit bewahren. Nach mehreren Jahrzehnten der Auseinandersetzung zwischen Polen, Ungarn und Litauen gewann Polen 1387 das Fürstentum Halitsch als Reußen regnum

Russiae). Die ungarische Königstitulatur „Rex Galiciae et Lodomeriae" (Königreich Galizien und Lodomerien) blieb bestehen und diente Österreich 1772 als Vorwand für seine Ansprüche auf Galizien bei der Teilung Polens. Österreich fügte später noch neue Erwerbungen polnischer Gebiete von Westgalizien (die Herzogtümer Auschwitz und Zator. Und das Großherzogtum Krakau) hinzu. Da-nach blieben die Grenzen Galiziens unverändert. Auch der Name blieb derselbe, wurde aber gewöhnlich in „Galizien” abgekürzt. Die Verwaltung des Königreichs Galizien und Lodomerien, seit

1849 meist Kronland, wurde unter einem in Lemberg residierenden Gouverneur mit deutschen und tschechischen Beamten und deutscher Amtssprache zentralistisch aufgebaut. Auf die völkischen Unterschiede (47 % Polen, 45% Ukrainer, 6% Juden) wurde kaum Rücksicht genommen.

Die unter Josef II erfolgte Ansiedlung von rund 5000 deutschen Familien, meist aus der Pfalz, überwiegend in Ostgalizien, sollte nicht der Germanisierung dienen, sondern Lehrmeister rationeller

Wirtschaft ins Land bringen. Nach 1849 gelang dem polnischen Statthalter und zeitweiligen österr. Innenminister, Graf Goluchowski, eine allmähliche Polonisierung der Verwaltung, Die Ergebenheitserklärung des Landtags an Kaiser Franz Josef 1866 führte im Jahre 1868 zur eitgehenden Selbstverwaltung Galiziens mit polnischer Unterrichts- und Amtssprache, mit polnischem Statthalter und polnischem Minister für Galizien in Wien. Die überwiegend vom nationalistischen polnischen

Adel getragene polnische Selbsiverwaltung Galiziens mit einer starken Oberschicht poln. Beamter, Priester und Lehrer, führte vor allem auch in Ostgalizien mit überwiegend ukrainischer Bevölkerung zur nationalen Unterdrückung der nichtpolnischen Bevölkerung, sowohl in West- als auch in Ostgalizien. 

Nach dem Zusammenbruch Osterreich Ungarns 1918 kam Galizien an Polen, "wobei sich der Übergang in Westgalizien mit Hilfe einer Liquidationskommission gewaltlos vollzog. In Ostgalizien entbrannten sofort pol.-ukrainische Kämpfe, in deren Verlauf auch Ostgalizien im Sommer 1919 unter polnische Herrschaft kam. Nun stand ganz Galizien unter poln. Verwaltung. So vielfältig die Ge-schichte und so vielgestaltig das Land Galiziens war, so vielfältig war auch seine Bevölkerung (1939, 8 Mill. Einwohner). In Galizien waren beheimatet, wohnten und lebten Polen, Ukrainer (Ruthenen), Juden, Deutsche, Armenier, Zigeuner und Reste von Ungarn, Tschechen, Tataren, Rumänen. Die Polen besiedelten in der Mehrheit Westgalizien, wogegen die Ukrainer (Ruthenen) in der Mehrheit Ostgalizien besiedelten. Die allgemeine ethnographische Grenze der beiden Völker bildete der Fluß San. Die Polen sind ein westslawisches Volk im östl. Mitteleuropa. Die bekanntesten poln. Stämme Galiziens sind: Krakowiaken, Lasowiaken, Podhalen und Goralen.

Die Krakowiaken, die Bewohner der Woiwodschaft Krakau, sprechen einen südpolnischen Dialekt. Ihre Siedlungen sind überwiegend kleine kompakte Haufendörfer. Die Häuser waren früher aus

Holz gebaut, mit einem Stroh- oder Schindeldach bedeckt. Heute herrscht der Massivbau vor. Die Krakowiaken besitzen einen reifen Verstand, sie sind vorsichtig, zeigen im Unglück viel Geistes-

Gegen wart, lassen sich aber leicht vom Jähzorn übermannen. Ihre Hauptbeschäftigung bildet die Landwirtschaft; jedoch fehlt ihnen der friedlich stille Sinn des Ackerbauers. In seinen Adern fließt noch das kriegerisch feurige Blut seiner freiheitsliebenden Vorfahren. Die Tracht der Krakowiaken ist malerisch und bunt.

Über das Hemd mit engem Kragen und anschließenden Ärmeln, das über das Beinkleid fällt, wird ein mit Messingstiften beschlagener Ledergurt geschnallt, daran hängt das unentbehrliche Messer.

Das Beinkleid ist aus Leinen oder Leder und die Stiefel reichen bis an die Knie. Die niedrige, oben hochrote Kappe mit viereckigem Deckel ist an der Seite mit Federn oder Bändern geschmückt. Die untere Rundung der Kappe ist mit schwarzem Schafsfell' besetzt. Das Kostüm vervollständigt der dunkelrote seidengestickte Rock. Malerisch ist auch die Tracht der Frau. Die typischen Bestandteile sind Goralen-Gehöft ein mit Seide oder Wolle am Hals, den Achseln und Ärmeln gesticktes Hemd.

Darüber trägt die Krakowianka das Atlasmieder und den kurzen bunten Rock, umhüllt von Spitzen- oder Seidenschals. Sie trägt Stiefelchen mit hohen Absätzen und einem hochroten mit Schafsfell ge-fütterten Oberrock. Perlen und sonstiger reicher Schmuck gehören selbstverständlich dazu. Die Goralen (Bergbewohner), von polnisch göra = der Berg, sind Viehzüchter und Hirten, daneben betreiben sie auch Ackerbau. Im Gebirge herrschte der Einzelhof vor. Das goralische Haus wird durch Tür und Flur in zwei gleiche Hälften geteilt. Auf der einen Seite befindet sich die „schwarze” Stube, in der gekocht wird und die häuslichen Arbeiten verrichtet werden. Außerdem leben in dieser Stube auch die Ferkel, Lämmer und Kälber. Auf der anderen Seite liegt die „weiße" Stube mit den Schlafstätten.

Der Gorale beschäftigt sich auch mit verschiedensten Handwerken (Tischlerei —Böttcherei usw.). Altes Überlieferungsgut, vor allem eine schöne Volkstracht und eine archaische Bauform der Häuser, hat sich bis heute erhalten. Die Häuser sind aus Fichten- oder Lärchenholz gebaut.

Die Podhalen sind die Bergbewohner der hügeligen Landschaft (700 bis 1000m) zwischen den Beskiden und der Tatra.

Die polnische Kernbevölkerung wurde im 13. Jahrhundert von deutschen Bauern, im 14. und 15. Jahrhundert von rumänischen Hirtenvölkern überlagert. Slowakische und ungarische Einflüsse bewirkten die Herausbildung einer besonderen Volkskultur. Die Podhalen beschäftigen sich fast ausschließlich mit Viehzucht. 

Die Polen waren in Ostgalizien in der Minderheit und meist in den Städten vertreten. Getragen wurde es auch hier in der Hauptsache vom polnischen Adel, der auch in Ostgalizien große Besitzungen hatte. Dazu stellten die Polen als Staatsvolk die Beamten sämtlicher Ämter, der

Polizei, des Offizierskorps und der sehr nationalbewußten röm. kath. Priesterschaft. Mit viel Geschick, aber auch mit wenig Skrupel, verstand es die polnische Führungsschicht mit fast missionarischer Aktivität und missionarischem Sendungsbewußt sein andersgläubige und andersvölkische Gruppen zum röm. kath. Glauben und Polentum zu führen. Röm. kath. Kirche und Polentum sind auch heute eine in sich geschlossene Einheit. Wie schon 'erwähnt, war Ostgalizien ukrainisches Siedlungsgebiet. Die Ukrainer gehören zu den Nachkommen der Slawen, die durch die Völkerwanderung aus dem Innern Rußlands in die Karpatengegenden verschlagen worden waren.

Zu den Ukrainern werden auch die ihnen in Sprache und Sitte eng verwandten Huzulen, Bojken und Lemken gerechnet.

Die Ukrainer wurden früher in Rußland auch Kleinrussen, im alten Österreich Ruthenen, Russnjaken und in der Tschechoslowakei Karpatoruthenen genannt. Die Ukrainer in Galizien waren in der

Mehrzahl griechisch-katholisch. Sie lebten in Straßendörfern, die sich an Bach und Flußläufen oft bis 7km lang hinzogen. Haufendörfer gab es in der Podolischen Platte und Streusiedlungen in den Karpaten. Die im geschlossenen Gehöft lebende Bauernfamilie zeigte stark individualistische Züge mit Fähigkeit zur freiwilligen Gemeinschaft (Gromada).

Trotz der langdauernden Fremdherrschaft bewahrten die Ukrainer eine Volkskultur, die sich im großen Reichtum an Bräuchen, Trachten, Märchen, Sagen und epischen Liedern (duma) äußerte. Städte und Marktflecken sind oft klein und dorfähnlich. Die galiz. Ukrainer haben auch eine hohe Volkskunst in Töpferei, Schnitzereien mit Kerbschnitt, Brandtechnik und Einlegearbeiten mit traditionellen Mustern, Web- und Leinenarbeiten, Stickereien sowie Flechtarbeiten aus Stroh, Schilf und Weide entwickelt. Zu großer musikalischer Entfaltung gelangte die ukrainische Chormusik. Typische Musikinstrumente sind Leier, die Duda, Trembita und Sopialka, eine Art Schalmei.

Die Tracht der Ukrainer ist bescheiden. Die Männer trugen langes Haar, das bis in die halbe Stirn herabwuchs. Das grobe Leinenhemd war mit einem Knopf am Kragen geschlossen. Es fiel über das ebenfalls grobleinene Beinkleid und wurde mit einer Schnur oder einem Gürtel festgehalten. Darüber wurde der im Sommer kurze und im Winter lange Rock mit Schafspelzfutter oder Schafspelz getragen. Auf dem Kopf trug er im Sommer den aus Stroh geflochtenen breitrandigen Hut und im Winter die hohe Lammfellmütze. Im Gegensatz zu den Männern war die Tracht der Frauenfarbenreicher. Es gehörte viel Schmuck dazu, ob echt oder unecht, das spielte keine Rolle. Weiße Blusenhemden mit reich bestickten oder benähten bunten Ärmeln, dazu der Farbenreichtum der Röcke und Schürzen, das bunte über die halbe Schulter herabhängende Kopftuch geben der Frauentracht eine besonders heitere Note. Die Huzulen sind ein westukrainischer Stamm von Hirten und Flößern im südöstlichen Teil der Waldkarpaten. Die Männer und Frauen sind geschickte Reiter. Sie züchten eine kleine zähe Pferderasse. Mehr berichtet uns Fries in seinem Beitrag: Bei den Huzulen zu Gast.

Ein weiterer ukrainischer Volksstamm waren die Bojken, die das Gebiet beiderseits der Waldkarpaten und Ostbeskiden bewohnten. Der karge Boden bedingte früh das gemeinschaftliche Grundeigentum. Angebaut werden Weizen, Mais, Kolbenhirse. Daneben gibt es Viehzucht. Die Bojken haben ihre alten Trachten, Sitten und Gebräuche bis heute erhalten. Der Wohnhaustyp ist der des alten Holzhauses mit hohem Strohdach. 

Auch die Lemken sind eine Volksgruppe der Westukrainer. Sie bewohnten die unteren Beskiden. Ursprünglich waren sie Hirtennomaden. Es gibt bei ihnen sowohl Einzel- als auch Streusiedlungen.

Die Lemken sind orthodox und griechisch - katholisch. Traditionelle Brauchtumsformen haben sich bei ihnen besonders bei Hochzeiten und Kindstaufen erhalten.

Noch in jüngster Zeit wird den Knaben bei Vollendung des 7. Lebensjahres das Haar geschoren. Die Lemken wurden 1945 zum Teil nach Ostpreußen verpflanzt.

Eine besonders auffallend charakteristische Bevölkerungsgruppe in Galizien waren die Juden. Galizien war das Zentrum der Bewegungen im Judentum, die die besonders intensiven Formen der

Frömmigkeit pflegten. Um Verfolgungen in Mitteleuropa zu entgehen, wanderten sie seit dem 13. Jahrhundert in Galizien ein. Ihre Umgangssprache war das Jiddische. Frühehen waren bei ihnen häufig. Ihre Festkleidung bestand aus langen Kaftanen, Seidenüberröcken (Chalate), hohen Stiefeln und Pelzen. Unter den runden Pelzmützen quollen an den Schläfen die charakteristischen Ringellocken hervor. Die Frauen trugen über dem Kleid eine Spitzenschürze, auf der Brust rotes, goldbesticktes Plastron. Um den Hals trugen sie eine fältige Krause und auf dem rasierten oder kurzgeschorenen Kopf eine farbige Haube oder Perücke. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung

Galiziens war in den Städten besonders hoch. Sie fielen nicht nur durch ihre Kleidung und Zahl, sondern auch durch ihre Geschäftigkeit und Geschäftstüchtigkeit auf. Da sie sowohl in das wirtschaftliche Leben des Landvolkes, sowie auch in das der Stadtbevölkerung und des Adels ein- griffen, machten sie sich zu einem stark hervortretenden „Faktor”" des öffentlichen Lebens. Alle erdenklichen Privatgeschäfte wurden durch die Juden vermittelt. Sie traten als Zwischenhändler im

Vieh-, Getreide- und Holzhandel auf. Sie besorgten und befriedigten die Geldbedürfnisse aller, wobei sich jedoch ihre Dienstfertigkeit in Geldangelegenheiten all zu oft verderblich auswirkte. Die Juden waren nicht nur Kaufleute, Industrielle und Bankleute, sondern auch Handwerker, Ärzte und Rechtsanwälte.

Vom Peter Unterschütz
 

13 Dezember 2021
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